Wie viel Selbstdarstellung braucht ein Spitzenkoch in unserer Zeit?
Diese Frage habe ich mir beim ersten Durchblättern des neuen Kochbuchs von Tim Raue zuerst gestellt. Der Titel des Buchs – My Way – verhehlt das Selbstbewußtsein des Autors dann auch in keinster Weise.
Seit meinem Besuch in Tim Raues Restaurant in Berlin bin ich seiner Küche verfallen.
Das neue Kochbuch füllt bei mir daher die Wissenslücke mehr über den Koch, seine Gerichte und Ideen zu erfahren. Um es gleich vorwegzunehmen: My Way löst diesen Anspruch ein ; jetzt bitte aber trotzdem weiterlesen ;-).
Wer Tim Raue noch nicht wirklich kennt, für den habe ich hier ein passendes Video gefunden, in dem er selbst seine Philosophie erläutert:
Tim Raue – My Way: Aufbau und Inhalt
Das opulente Buch (großes Quadratformat) ist eine Bestandsaufnahme des Könnens und dokumentiert die wichtigsten Gerichten Raues.
Was den Rahmen eines üblichen Kochbuchs jedoch sprengt, sind die persönlichen und biographischen Texte, die auf den ersten Seiten zu finden sind.
Teil 01 – finding yourself (S. 30 – 45)
Die eher schwierige Jugend Raues und sein Werdegang vom „Schlägertyp“ zum Spitzenkoch läßt sich hier sehr eindrucksvoll nachlesen (besonders authentisch wirkt das durch die Bilder aus Raues Familienalbum).
Aber: mich interessiert das nicht wirklich. Ich bin auch kein Hobbypsychologe, der analysiert und folgert: „Aha, weil Raue so eine prekäre Kindheit hatte, kocht er jetzt so gut.“
Vielleicht ist dies eine Methode für Raue um mit sich ins Reine zu kommen. Jedenfalls ist es brillantes Storytelling und da wären wir wieder bei meiner Eingangsfrage.
Teil 02 – creating yourself (S. 48 – 69)
Bereits viel interessanter und aussagekräftiger ist Raues Kochbiographie im zweiten Abschnitt.
Man erfährt mehr zu den Stationen seiner Kochausbildung und kann dadurch auch die Entwicklung des Kochstils nachvollziehen.
Hier nennt er auch mit den beiden asiatischen Köchen Sam Leong (ein etwas älteres Portrait hier) und André Chiang (hier mehr zu ihm) die wichtigsten Impulsgeber für seine Weiterentwicklung als Koch.
Teil 03 – rezepte (S. 90 – 259)
Der dritte und umfangreichste Teil des Buchs My Way ist das Herzstück: Tim Raues Gerichte mit den dazugehörigen Rezepten. Diese sind gegliedert in:
- Vorspeisen und Snacks
- Dim Sum
- Fisch
- Krustentier und Meer
- Geflügel
- Fleisch
- Desserts
- Grundrezepte
Wenn man durch die brillant fotografierten Gerichte blättert geht einem das Herz auf.
Durch meinen Restaurantbesuch bei Raue erkenne ich einige Teller wieder, z.B. einen der Signature Dishes: die Peking-Ente TR (zu finden auf S. 184).
Bei den Rezepten die ich noch nicht kenne, entsteht spontan der Wunsch:
Ich will das essen! Jetzt! SOFORT!
Ein Nachkochen ist bei den meisten Rezepten selbst für den ambitionierten Hobbykoch in der Regel wohl nicht möglich: zu komplex, zu aufwändig die Zubereitung, zu ungewöhnlich die Zutaten (Stichwort: chinesische Mandarinen, gelber japanischer Rettich usw.).
Natürlich gibt es Ausnahmen. Bloggerfreund Fabian von In die Küche. Fertig, los! hat sich jüngst am Lemon Chicken versucht, mit überzeugendem Ergebnis (zu Fabians Blogpost).
Ich habe mir das Miso-Huhn mit Orange & Aubergine (S. 198) schon mal für einen Nachkoch-Versuch vorgemerkt – und das nicht nur weil hier Raue hier süssen Weißwurstsenf aus meiner oberpfälzer Heimat verwendet 🙂
Wie stark sich Tim Raue mit seinen Kreationen identifiziert wird im begleitenden Einleitungstext zu jedem Rezept klar – das ist für die Leser extrem hilfreich.
Nur so gewinnt man Einblick in Denken und Kreativprozess eines so hochkarätigen Kochs.
Ein Extralob von mir für diese Texte!
So komplex oder (relativ) einfach die Gerichte auch sein mögen, sie eint ein Element – das Raue-Gen sozusagen.
Textur und Aromagegensätze bilden mit süßen, sauren scharfen Komponenten eine perfekter Harmonie.
Nein nicht nur intellektuell konstruiert, sondern so dass es wirklich schmeckt, dass man sagen möchte: Noch einen Teller davon bitte!
Mein Fazit zum Buch My Way
My Way von Tim Raue: für mich ein extrem inspirierendes Buch.
Endlich die Schaffenskraft von einem der besten Köche, die wir hierzulande haben, konzentriert zum Nachlesen. Dafür wurde es höchste Zeit.
Dass der Erscheinungstermin des Buchs My Way mit dem Start der dritten Netflix-Staffel „Chef’s Table“ PR-günstig zusammenfiel – geschenkt. Tim Raue hat schließlich als erster deutscher Koch eine Episode erhalten.
Wer sich an Raues Charakter und polarisierenden Aussagen stört, oder dogmatische Vorbehalte hat gegen eine Küche die Zutaten aus der ganzen Welt einfliegen läßt, möge sich fernhalten.
Für alle anderen ist dieses Kochbuch ein Fest der Koch-Kreativität und des Genußes im Spiegel unserer globalisierten Umwelt.
Ausstattung und Aufmachung
Neben den brillanten Fotos (von Jörg Lehmann, Lesern des Feinschmecker Magazins seit Jahren bekannt) überzeugt My Way durch unaufgeregtes, funktionales Layout und eine Opulenz in der Aufmachung.
Großformatige Bildstrecken, Lesebändchen und sorgsames Lektorat machen die Lektüre zum Vergnügen. Der Callwey Verlag zeigt hier wie man wegweisende Kochbücher machen kann. Bravo!
My Way von Tim Raue wurde inzwischen von einer Reihe Bloggerkollegen besprochen.
Wie üblich habe ich im Vorfeld keine dieser Rezensionen gelesen. Wer meine Meinung vergleichen möchte – hier eine Auswahl: Bei Annette (culinarypixel), bei Oliver (Kochfreunde) und bei meinen lokalen Bloggerfreunden Uli (Delikatessenschmiede) und Thomas.