Leaf to Root – Alles vom Gemüse essen | Buchbesprechung

Leaf to Root – schon wieder ein neues Buzzword für gelangweilte Foodies?

Nein, auch wenn der Begriff neu ist, beschreibt er eine Idee, die Bestand haben wird. Leaf to Root ist das Veggie-Pendant zu Nose to tail.

Bei Leaf to Root wird eben nicht alles vom Tier verzehrt, sondern alles von der Pflanze. Wir sprechen hier von Schalen, Strünken und bisher verschmähten Blättern, geschossenen Pflanzen und einigem mehr.

Die Idee ist nicht neu. Ich erinnere mich spontan an ein Rezept für Erbsenrisotto von Eckart Witzigmann, bei dem auch die ganzen Schoten verwendet wurden.

Das Neue ist die Konsequenz und der systematische Umgang mit dem Konzept „Alles vom Gemüse essen„.

Innenseite mit Fotos von Gemüse im Buch Leaf-to-Root

Ein Meilenstein der grünen Küche


Wie immer wenn man Neuland betritt, empfiehlt es sich einen guten Führer zu haben.

Ich wage zu behaupten: Mit dem neuen Buch Leaf to Root von Esther Kern, Sylvan Müller und Pascal Haag hat man die beste Instanz zu diesem Thema. Einen fundierteren Umgang mit der Idee der kompletten Verwertung von Pflanzen kann ich mir wirklich nicht vorstellen.


Ein Grund für die bestechende Qualität des Buchs ist das kongeniale Autorentrio:

Esther Kern ist Journalistin und Autorin zum Thema Essen & Trinken.

▶️ Podcast Interview mit Autorin Esther Kern im mdr – Dauer 7:22 min

Sylvan Müller ist Fotograf, der spätestens seit seinen Bilder für das Mammutwerk „Das kulinarische Erbe der Alpen“ zu den großen seiner Zunft zählt.

Pascal Haag ist Koch, einer der profiliertesten Experten für vegetarische Küche in der Schweiz.


Was mir dazu auffiel als ich das Buch zur Hand nahm: Neben den Autoren kommen Fachleute aus allen wichtigen Bereichen zu Wort: Profi-Köche, Bauern, Wissenschaftler etc.

So wird sichergestellt, dass alle Aspekte von Leaf to Root betrachtet werden. Ich würde diese mal in folgende Klassen einteilen:

Die drei Säulen der Leaf-to-Root Idee

Genuß

Schmecken die bisher nicht beachteten Pflanzenteile wirklich so gut, dass man sie unbedingt probieren müßte?

Der Gegensatz dazu wären ideologische Fragen wie etwa in der Fleischersatz-Diskussion – sie findet man hier zum Glück nicht.

Professionelle Rezepte

Haben sich Spitzenköche (ich meine damit solche aus besternten Häusern, nicht die aus dem Fernsehen) schon mit Leaf to Root befasst und so innovative Gerichte kreiert (und diese auch im Restaurant-Alltag umgesetzt)?

Innenseite aus dem Leaf-to-Root Buch mit Rezept

Die Anwendung neuer Ideen: Rezepte zur Gemüseküche

 

Gesundheit

Wurde mit wissenschaftlichen Methoden geprüft ob sich einzelne Pflanzenteile auch wirklich zum Verzehr eignen und welchem gesundheitlichen Risiko man sich ggf. aussetzt?

Orientiert an diesen Fragen ist auch das Buch aufgebaut.

Leaf to Root – Aufbau und Inhalt des Buchs

Vorspann

Nach einem Vorwort und einer kurzen Einleitung, die die Idee zum Buch skizziert folgen 10 hochinteressante Seiten mit der Aufzeichnung eines Roundtable Gesprächs.

Diese Runde ist hochkarätig besetzt: Ein Foodhistoriker, ein Ernährungssoziologe, eine Pflanzenexpertin und – ich hatte es bei einem Buch dessen Entstehung in der Schweiz liegt vermutet – dem Avantgardekoch Stefan Wiesner (selbst Autor des innovativer Kochbücher, z.B. der Wurstwerkstatt).

Schon allein diese paar Seiten übertreffen in Offenheit, Sachkunde und Unaufgeregtheit das meiste was man alltäglich in Sachen Essens- und Ernährungsdiskussion vorgesetzt bekommt.

Hauptkapitel

Der Hauptteil ist nach den einzelnen Pflanzenbestandteilen gegliedert und jedes Unterkapitel wird dabei von einem Experten unterschiedlicher Coleur beleuchtet:

Blatt & Kraut

Hier kommen Andree Köthe & Yves Ollech vom Essigbrätlein (2 Sterne Michelin) in Nürnberg zu Wort.

Wer mich etwas kennt, weiß wie sehr mich das freut (wer mich nicht kennt kann mich auf der Seite „Über mich“ kennenlernen).

Doppelseite vom Buch Leaf-to-Root mit Portrait von den Köchen Andree Köthe und Yves Ollech

Pioniere der innovativen Gemüseküche: Andree Köthe und Yves Ollech


Behandelt werden Zutaten wie Erbsentrieb, Karottenkraut, Kohlrabiblatt usw.

Stiel & Rippe

Ein Portrait von Søren Wiuff (den Rene Redzepi als „besten Bauern der Welt“ bezeichnet) flankiert dieses Kapitel in dem Grünkohlrippe, Fenchelstiel, Petersilienstiele usw. zum Einsatz kommen.

Auch ein Rezept direkt aus dem weltberühmten Restaurant Noma ist hier abgedruckt.

Haut & Haar

In diesem Abschnitt wird die junge Schweizer Köchin Rebecca Clopath portraitiert.

Sie war mir bis dato kein Begriff. Als ich jedoch ihre Ausbildungsstationen gelesen habe wurde schlagartig deutlich in welcher Kochtradition sie sich bewegt: Lehre bei Oskar Marti, dem „Urvater“ der (Wild-)Kräuterküche in der Schweiz (hierzulande zu Unrecht fast unbekannt – ich habe seine inzwischen hoch gehandelten Jahreszeiten-Kochbücher im Schrank), und dann sechs Jahre beim „Hexer aus dem Entlebuch“ Stefan Wiesner als Küchenchef.

Rebecca Clopath ist wohl eine der innovativsten Jungköchinnen im deutschsprachigen Raum. Sie ist leider noch wenig bekannt, aber immerhin gibt es ein sehenswertes Video über sie:

Produkte mit denen in diesem Abschnitt gekocht wird, sind z.B. Gurkenschale, Karottenschale, Kartoffelschale und – sehr ungewöhnlich – Wassermelonenschale.

Strunk & Herz

Hand auf’s Herz – wer hat schon jemals den Strunk von Weißkraut oder Blaukraut verkocht?

Genau darum geht es in diesem Abschnitt. Hier finden sich hochinteressante Rezepte, die echten Genuß versprechen, z.B. „Geschmorten Rotkohlstrunk mit Orangen-Polenta“ (S.158).

Interessant an dieser Stelle der Beitrag von Sensorikwissenschaftlerin Christine Brugger, die einige ungewöhnliche Gemüsebestandteile in rohem und verarbeitetem Zustand analysiert.

Leaf to Root Kochbuch Innenseite mit Foto von aufgeschnittenem Kohl

Strunk und Herz – toll fotografiert.

 

Blüte & Kern

Wie passend, dass unter dieser Überschrift ein Lebensmittelchemiker zu Wort kommt.

Ich habe vor Zutaten wie Aprikosenkernen, die ich eher als „giftig“ einschätzen würde, einen Heidenrespekt. Dass aber wohl nicht jeder Aprikosenkern die gefährliche Blausäure enthält und noch viel mehr erfährt man in diesem Abschnitt.

Sehr interessant auch die Ausführungen wie heikel wohl die Verwendung von Tomatengrün ist. Ehrlich gesagt – ich glaube, daran traue ich mich nicht…

Ein typisches Rezept, das mich hier eher anspricht, wäre „Rotwein-Chicorée mit Papayakernen und Feta“ (S. 186)

Wurzel & Knolle

Löwenzahnwurzel, Chicoréewurzel und – noch nie gehört – Dahlienknolle werden hier verkocht. Wer Löwenzahnwurzel austreiben lassen möchte, findet eine kleine Anleitung für den Garten oder Balkon zu Hause.

Extrem perspektivenöffnend ist die Beschreibung von Johann Reisinger in diesem Abschnitt.

Reisinger ist einer der Vordenker in Österreich für die „New-Green-Cooking-Bewegung“ und entsprechend kenntnisreich ist er.

Er veranstaltet die Schönbrunner Seminare, die Verwendung alter Gemüse- und Obstsorten aufklären, und arbeitet eng mit Heinz Reitbauer vom Wiener Steirereck zusammen.

Kompendium

Den fundierten Charakter des Buchs Leaf-to-Root unterstreicht das abschließende Kompendium aller behandelten Zutaten.

Nicht nur die Untergliederung der Pflanzenteile ist hier sehr gelungen sondern auch die zahlreichen Querverweise auf andere Bücher und Zitate.

Auf mehr als 70 Seiten findet man alle Daten kompakt dokumentiert – unschlagbar, wenn man selbst experimentieren will und Infos sucht.

Innenseite aus dem Kompendium des Buchs Leaf-to-Root

Extrem hilfreich: Kompendium auf über 70 Seiten

 

Mein Fazit zum Buch Leaf to Root

Ich lehne mich weit aus dem Fenster und sage schon jetzt im Februar: Das ist das wichtigste und innovativste Kochbuch des Jahres 2017.

Dieses derartig fundierte Werk bekommt meinen uneingeschränkten Applaus.

Man muss kein Hellseher sein um zu sagen: Diese Buch macht einen Tür ganz weit auf in Richtung progressive vegetarische Küche, die am Genuß und nicht an der Ideologie orientiert ist.

Und ich bin mir auch sicher, dass wir schon in Kürze Elemente und Ideen aus diesen Buch in vielen Gerichte der gehobenen Gastronomie finden werden.

Ansicht Buchrücken des Kochbuchs Leaf-to-Root

Wegweisend für die vegetarische Küche: Leaf to Root als Konzept


Der AT-Verlag hat hier einen Meilenstein geschaffen und einmal mehr seine Kompetenz im Bereich Kochbücher unterstrichen.

Neben dem herausragenden Inhalten ist das Buch toll gestaltet und sehr gut ausgestattet. Die Fotografien könnten passender nicht sein.

Das praktische Format und zwei Lesebändchen machen Leaf to Root küchen- und alltagstauglich.

Ein kleines aber feines Indiz, dass die Ernsthaftigkeit des Buchkonzepts unterstreicht:

Wie selbstverständlich wird weiterführende Literatur und Bücher anderer Verlage im Text empfohlen. Nicht irgendwo versteckt in einem kleingedruckten Quellenverzeichnis, sondern dort wo es der Leser erwartet und braucht.

Wann haben wir das zuletzt in einem Kochbuch gesehen?

Bildcollage auf einer Doppelseite des Buchs Leaf to Root

Im Gemüse steckt mehr als wir glauben.

 

Auszeichnung und weitere Rezensionen

Wenig überraschend hat Leaf to Root inzwischen die Auszeichnung Gourmand World Cookbook Award erhalten.

Besonders freue ich mich auch, dass mehrere Bloggerkollegen über das Werk schreiben.

Ich habe im Vorfeld keine der Besprechungen gelesen, um hier möglichst wenig beeinflußt zu werden. Wer meine Meinung vergleichen möchte, findet die Rezensionen z.B. bei magentratzerl, highfoodality und nutriculinary.

Der Bedeutung des Buchs angemessen gibt es inzwischen hier einen eigenen Facebook-Auftritt.

Wer jetzt noch immer an meine Lobhudeleien zweifelt, kann sich noch dieses schöne Video Portrait vom Schweizer Fernsehen (SRF) ansehen – aber Vorsicht: In Schwyzerdütsch 🙂

Schlüsselzitat aus Leaf to Root

Abschließen möchte ich meine Rezension mit einem Zitat aus dem Buch, das für mich den Schlüssel zum Konzept Leaf to Root darstellt.

Es ist der Rat von Johann Reisinger an alle Jung- und Nachwuchsköche:

Die sollten erst Bauern werden, um überhaupt zu verstehen, wo das Gemüse herkommt, wie es wächst. [Und auch der Hobbykoch] sollte gärtnern oder beim Gemüsebauern aufs Feld. (…) Wenn man beim Ernten die Vögel zwitschern hört und die Wildkräuter wahrnimmt, kommt man auf ganz andere Ideen.

Leaf to Root – Esther Kern, Sylvan Müller, Pascal Haag

49,90
9.7

Inhalt

10.0/10

Design

9.5/10

Preis/Leistung

9.5/10

Fotos

10.0/10

Nachkoch-Faktor

9.5/10

Das gefällt mir gut:

  • Standardwerk zum Thema
  • Fundierte Rezepte
  • Sehr schöne Ausstattung